2021 – Hinter dem Vorhang

Der Fund
							Du sollst dir kein Bildnis machen.

119

Frühling

Das Pflegeheim ist wieder geöffnet. Du siehst gut aus und zufrieden, und ich bin erleichtert darüber.

120

Traum:

Ein junger Löwe ist bei mir. Ich habe Angst vor ihm, gestehe sie mir aber nur widerwillig ein, weil der Löwe zu mir gehört. Da ist noch eine andere Person, die den Löwen sehr bewundert. Der Löwe kommt mir nah, und ich sehe, dass er ein kleinteiliges geometrisches Muster in Grün und Ocker auf dem Fell hat: Streifen von Dreiecken und dazwischen Linien. Auch sehe ich an seiner Schnauze Nähte. Die andere Person macht mir den Vorschlag, den Löwen aufzuschneiden und zu schauen, ob er wirklich ein Löwe ist. Dann liegt da die Löwenhaut aus Stoff, und darin alte Kleider und Tücher, mit denen sie ausgestopft war. Wie konnte sich der Löwe bewegen? Wie konnte er knurren? Die andere Person meint, es sei vielleicht ein elektronisches Teil im Kopf des Löwen gesteckt, das ihn gesteuert habe. – Dein Sternzeichen ist ‚Löwe‘, und ich habe Magenschmerzen.

Wir wollen nicht wissen, weil wir nicht aushielten,
was wir wüssten.

121

E. sagt: „Vereinsame mir nicht!“

122

Sehen, was der Fluss bringt
zwischen Steininseln hindurch –
Sehen, dass ich haltlos
vom Zeitstrom mitgerissen mich
einem Grasbüschel gleich
–unterspült–
vom Ufer gelöst habe

123

Die Rede der alten Frau:
„Ich habe nichts von dem erreicht, was man als Erfolg bezeichnen könnte: keine Kinder, kein Mann, der bei mir geblieben wäre, keine richtige Ausbildung und kein richtiger Beruf. Ich war eine Tochter, die sich mit dem Vater schwertat, und hier muss ich ehrlich sein: Ich blieb eine Tochter.
Es war keine Frage, dass ich nach der Schule im Geschäft mitarbeitete.
Aber dass es nicht lange gut gehen würde, war absehbar. – Er hat mich auch nach kurzer Zeit hinausgeworfen in ein turbulentes Leben. Ich war grossgewachsen und schön und selbstbewusst und eigenwillig.
Und meine Männer waren die schwarzen Schafe reicher Familien. Ich war ihnen ebenbürtig und doch nicht standesgemäss, zwar aus bürgerlichem Haus, aber eben nur aus gutbürgerlichem, nicht grossbürgerlichem oder gar adligem. Das konnte ich auch dadurch nicht wettmachen, dass ich eine Dame war, aufrecht und stolz.
Der erster Mann verliess mich, den zweiten liess ich sitzen.
Auch während der Ehen arbeitete ich immer als Sekretärin von Firmeninhabern. Wahrscheinlich war ich nicht nur sehr repräsentabel, sondern auch kompetent.
Nebenbei bemerkt, musste ich auch arbeiten, da meine teuren Angetrauten beide von ihren Familien enterbt waren und auf dem Trockenen sassen.
Nun sitze ich hier in dieser Zweizimmerwohnung in der Alterssiedlung und streite mich mit der Heimleitung darüber, ob man mir ungefragt Kartonherzen aussen an die Wohnungstür hängen darf.
Ein Konflikt, wie ich schon viele durchgestanden habe – aber unnötig.
Wenn ich also Bilanz ziehe, muss ich sagen: Ich bin eine Versagerin.
Ich habe nichts von dem erreicht, was ich hätte erreichen sollen.
Aber ich konnte nicht anders, obwohl ich es besser fände, wenn ich anders gekonnt hätte. Nun bin ich über achtzig, und dieses Leben hier ist bald vorbei.
Schade eigentlich.“

Die ohne Rang sind auch im Alter nicht angesehen.

124

Woher nehme ich meine Sehnsucht, dass ich gemeint bin?
Woher nehme ich die Gewissheit, dass ich gemeint bin: angedient, eingesetzt, – brauchbar?
Ich bringe es sogar fertig, selbst in die eigene Verhinderung zu stolpern und ihr noch eine Krone aufzusetzen!
Doch das Gekünstelte entlarvt sich endlich, das Zurecht-Gemachte, die Maskerade: Und dahinter finde ich nichts, was Ich wäre.
Das, was mir Halt gab, ist zum Weinen und zum Lachen – unbedeutend: Es gibt keine Gewissheit mehr, nicht einmal, dass mich der Himmel führt, nicht einmal die Illusion, dass ich stark genug sei, mein Leben selbst zu bestimmen.
Da ist nichts mehr! – Nicht, weil ich alleingelassen bin, – sondern weil nur ich da bin: Nichts.
Und doch bete ich zum Himmel, dass ich werde.

Seit Wochen ist die einzig ehrliche Art der Welt zu begegnen, die mit gesenktem Blick.

Es ist, als ob mein jetziges Leben an die Zeit vor unserer Ehe anknüpfte. Es ist, als ob die fünfundzwanzig Jahre verschwunden wären. Nur noch schemenhaft kann ich mich daran erinnern, da sie von der Last der Gegenwart verdeckt werden.

Aus dem Halbschlaf aufgeschreckt in atemloser Panik: „Ich will!“ – „Ich mache!“, obwohl nicht die Zeit ist, zu wollen und zu machen, denn ich sehe im Spiegel der Schaufenster den Rücken gekrümmt, ich sehe das Gesicht durchfurcht, die Augen leer.

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Die Integration des Abnormen in die Norm verhindert, dass das Abnorme sein Gespür für sich und seine Anlagen entfalten kann. Es wird in der Spiegelung der Norm aufgerieben. – Ich weiss, wovon ich rede.
Und es fliesst einem die Einsamkeit in die Fingerspitzen und der Zweifel, wenn das, was man empfindet, auf Unverständnis stösst.
Ob ich aber Zustimmung bekomme oder Ablehnung ist nur dem Ego wichtig, also unwichtig!

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Traum:
Ein kleiner Bub hüpft neben mir in einem Park einen weiten Abhang hinunter: Wiese, Bäume, Büsche, Stauden.
Wir sind auf dem Weg zum Meer.
Auf halber Höhe aber kehrt das Kind um und rennt den steilen Hang wieder hoch.
Ich setze mich zu einer Bekannten ins Gras.
Nach kurzer Zeit sehen wir das Kind rechter Hand hinunterkommen, schimpfend, protestierend, spuckend, dann kehrt es wieder um, bis es nach ein paar Metern wieder umkehrt.
So geht das einige Male. Immer wütend.
Die Bekannte fragt, was das Kind habe. „Es ist wütend auf das Meer“, antworte ich.
Ich stehe auf und gehe zum Bub, um mit ihm zu reden. Er rennt gerade den Hang wieder hoch, und ich rufe ihn zu mir. Er kommt wider Erwarten.
„Wieso bist du wütend auf das Meer?“ frage ich.
„Weil es nicht stolz ist, dass ich in ihm schwimme, weil es nicht glücklicher wird und es gern hat, dass ich in ihm schwimme.“
„Das Meer ist“, sage ich. „Es ist, wenn du oder ich in ihm schwimmen, es ist einfach. Es ist genauso, wenn niemand in ihm schwimmt. Das können wir ihm nicht vorwerfen. – Willst du mit mir nun zum Meer gehen?“
„Ja“, entgegnet der Bub: „Aber es soll sich freuen, dass ich komme.“

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Die Nacht der Vorwürfe: „Angsthasen! Ihr habt euch nicht getraut euer Anderssein zu leben!“
In mir tobt es, bis es innehält und mich erkennen lässt, dass meine Tiraden mir selbst gelten. Und auf einmal fällt die Abwehr gegen das „Falsche“ in sich zusammen, und ich warte nicht mehr darauf, dass die Andern sich endlich ändern, damit ich zu mir kommen kann.

128

Ich esse nur noch, wenn ich hungrig bin und schlafe nur noch, wenn die Müdigkeit grösser ist als die Angst vor dem Schlaf.

Nächte
Der Hund in meinem Schlaf sieht das Gespenst in der Ecke und bellt.
Traum – Sonntag:
Auf dem rechten Auge werde ich blind, und niemand warnt mich davor.
Ich merke es erst, als ich in den Spiegel schaue und sehe, dass das Lid unten bleibt, und der Augapfel geschrumpft ist.
Traum – Montag:
Ich stehe in einer Felswand und kann nicht hoch und auch nicht mehr zurück, kann nur noch ausharren und abwarten.
Traum – Dienstag:
Ich gehe durch ein Bergdorf und sehe nach den letzten Häusern den Pass, der mich durch die Berge führt.
Traum – Mittwoch und Donnerstag:
Ich wähle das Beste, das Teuerste, Exklusivste und Schönste, das Bequemste und das, was am meisten hermacht. Ich meine damit bedeutend zu sein. Und dann stellt sich heraus, –im Traum–, dass ich mich zuwenig informiert habe darüber, was ich wähle, denn es ist das Schlechteste, was ich wähle: die Kälte, die Schutzlosigkeit, den Angriff des Pöbels.

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Dein Leid grämt mich – manchmal so sehr, dass ich fürchte, selbst daran zugrunde zu gehen.
Aber ich bin nur Ertragende aus zweiter Hand – mehr nicht.
„Ich bin ein Idiot!“ sagst du, „nichts ist mehr da! Ich weiss nichts mehr!“
Du bist es, der das Unerträgliche ertragen muss!
Und ich bin nur an dein Schicksal gekettet, um meines zulassen zu müssen.

Weihrauch-Räuchern hilft.
Beten hilft.

130

Ich schreibe so, wie du im Meer geschwommen bist: Damit ich zufrieden bin, ohne Anspruch an die Welt.

131

Immer, wenn ich deine Schwächen beklagte, waren es meine Schwächen –, wenn ich sie denn endlich erkannte! – Immer.

132

„Ich habe einen dummen Kotz (Kopf) bekommen“, sagst du, und dass man deshalb mit dir nichts mehr zu tun haben wolle. „Ich kann nichts mehr machen, auch das nicht, was ich will“, sagst du und fährst dir mit der Hand über die Augen.
Fünf Minuten später ziehst du den rechten Finken aus und sagst: „Das kann ich aber“, dann ziehst du den Socken aus: „Das kann ich auch.“

133

SOMMER

„Ich wäre bei dir geblieben, auch wenn wir nicht geheiratet hätten. Aber dann wärst du frei gewesen und hättest gehen können“, sage ich.

In einer deiner Taschenagenden fand ich vor einem Jahr Aufzeichnungen, die du auf kleinstem Raum darin notiert hast. Ich las, dass da eine unglückliche Liebe war. Und etwa einen Monat nach dieser Trennung kam ich und blieb. Auch das steht in deiner Agenda. Ich frage dich: „Ist diese Frau, die du nicht bekommen hast, die ‚andere Frau‘?“ – „Darüber will ich nicht nachdenken“, antwortest du und dann: „Sie kommen und kommen und kommen. Und die, die nicht blieben, gehen wieder.“ – …und ich bin geblieben.

Ich bitte das Heim, mich von jetzt an mit meinem Vornamen anzukündigen und nicht mehr als ‚Ihre Frau‘, auch: weil nicht klar ist, wer ‚Ihre Frau‘ für dich wirklich ist.

Du: Man muss sich aufmachen, sich öffnen, und dann kommt der 
       Schwarze, und dann ist nichts mehr.
       Ich bin nicht leer. Aber da ist nichts.
       Es bricht alles zusammen.
       Wo ist meine Frau? Sie ist verschwunden. Wo ist die tolle Frau? 
       Sie ist weg.
        Ich will nicht daran denken, warum sie weg ist.
	Es muss noch viel erledigt werden.
        Manche waren hier und kommen nicht wieder. Ich bin nun auch hier.
	Ich: Ja, du bist nun auch hier.
Du: Zu gehen ist sehr schwer. Ich weiss nicht, wann es richtig ist 
        zu gehen.
	Ich: Wir sind auf einem Weg, von dem wir nicht wissen, wann er zu Ende ist. Aber ich bin sicher, dass uns der Himmel nicht allein lässt.
Du: Manche nehmen jemanden nur, weil er das und das gibt oder 
        so und so mit anderen ist.
        Ich: Ich wollte dich, weil du der bist, der du bist.
        Du: Vielleicht siehst du mich anders. Ich bin nicht mehr so…
        Ich: Ich sehe dich, wie du jetzt bist. Du bist jetzt, und ich bin 
               auch jetzt. Wir waren beide einmal anders. Aber jetzt sind 
               wir hier.

Beim Abschied schaust du zurück. Zum ersten Mal seit Monaten schaust du zurück, und fragst: „Kannst du es so machen?“ – „Und du? Kannst du es auch so machen?“ Wir nicken beide.

Wir sind auf einem Weg, nicht mehr am selben Ort, aber auf einem Weg.

134


Wir sitzen im Garten unter den Ahornplatanen, du im Rollstuhl, ich neben dir auf der Bank. „Wie lange muss ich jetzt hier sitzen?“ fragst du und bist sofort einverstanden, als ich vorschlage wieder ins Haus zurückzukehren. In deinem ‚Gartenzimmer‘ willst du im Rollstuhl sitzen bleiben und nicht aufs Sofa wechseln. „Ich möchte gerne mit dir dort sitzen und dich im Arm halten“, sage ich. „Je, du Liebe!“ sagst du, und stehst bereitwillig auf.

„Künstlich“, sagst du einmal, und dann: „Nicht echt“. – Dass jemand echt ist, war dir immer wichtig.
Ich beziehe deine Worte auf die Pflegenden hier. „Die arbeiten“, sage ich, „und bei der Arbeit übernimmt man oft eine Rolle.“ Du nickst und sagst: „Wir wissen, was die Wahrheit ist.“
„Ich bin sicher, diese Menschen hier suchen ihre Wahrheit auch“, entgegne ich. Darüber freust du dich.

Wenn ich dir Kaffee und Dessert, die es um 15.00 Uhr gibt, in Aussicht stellen kann, gehst du bereitwillig mit den Pflegenden mit. – Und mir fällt der Abschied leichter.
Du sagst zur Pflegerin, die dich rücklingsgehend an beiden Händen zur Küche führt: „Wir machen es gut.“ Und sie antwortet: „Ja, wir versuchen das Beste daraus zu machen.“
Und ich? Versuche ich das Beste daraus zu machen, wenn mir das Herz bricht?
Auf der Besuchertoilette wasche ich mir die Hände, um mich wiederzufinden. Und im Spiegel sehe ich mein Gesicht: auseinandergefallen, mit schmerzgeweiteten Augen.

135

Wir können nichts voraussehen,
was wir nicht schon erfahren haben.

Einige Jahre vor deiner Erkrankung erlebten wir unsere Hilf- und Ahnungslosigkeit bei einer Freundin, die uns oft in Griechenland besucht hat.
Sie erzählte uns von ihren Ängsten, weil sie über etwas trauerte, das sie nicht zu fassen bekam. Wir mutmassten, ob vielleicht ihre Pensionierung der Grund dafür sei, oder weil die Kinder ausgezogen sind. Sie hatte drei Kinder und in der Firma eine Kaderfunktion.
Als sie über den Platz davonging, sahen wir ihr nach, und du sagtest: „Das ist sehr traurig, was da passiert…“ und du meintest damit, dass sie nicht zu trösten wäre. Später erfuhren wir, dass der Verlust und die dadurch ausgelöste Depression, die wir meinten zu erkennen, der Beginn einer Demenz war, die sehr jung eintrat und sehr schnell fortschritt.
Die Freundin war noch ein-, zweimal beim Treffen eurer Gruppe, sass da und lächelte und ass und ass und ass. Sie sass da, – nicht unglücklich wie es schien –, sass einfach da.
Später erzählte man uns, dass sie bald darauf ins Pflegeheim musste. Und ihre Kinder schrieben jedes Vierteljahr einen newsletter darüber, wie es ihrer Mutter ging. Nach zwei Jahren war sie gestorben.
Deine Trauer, als du achtzig wurdest, habe ich ebenso wie die Trauer der Freundin mit guten Ratschlägen zu beruhigen versucht. „Das Leben ist noch nicht vorbei, nur weil du achtzig wirst“, sagte ich einmal. „Da können noch viele Jahre kommen.“ Ja, da hatte ich aber recht: Es sind noch viele Jahre gekommen.

136

Schon als du nicht mehr der eloquente Unterhalter warst, der charmant und geistreich aus dem Stegreif einen ganzen Tisch von Zuhörern mit seinen Anekdoten fesseln konnte, schon da verschwanden sie alle. Der Verlust des Erfolgs, die Drohung des Unglücks trieb sie von uns weg.

137

Ich schenke dir einen seidigen weissen Bären, und du küsst den weichen Stoff, wenn ich ihn dir ans Gesicht halte.

Ich schneide dir die Haare mit unserer Friseurschere, mit der du früher auch die Spitzen meiner Haare geschnitten hast.
Ich sage dir, dass ich dich liebe.
Ich sage dir oft, dass ich dich liebe, ohne eine Antwort zu erwarten. Heute sagst du: „Das spüre ich.“

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Ich dachte immer, mir könne nicht passieren, was anderen Frauen passiert: herauszufallen aus der Vorsorge, weil man einen Angehörigen pflegt. Aber es ist mir passiert, weil ich einen Menschen liebe, der an Demenz erkrankt ist.
Meine Rechnung heisst nun:
Der Verlust von dir und unserem gemeinsamen Leben
minus die Ergänzung des Betrags fürs Pflegeheim aus der kleinen Rente
minus der Verringerung der Pension, weil ich dich pflegte
gleich: Ich lebe von fast nichts.
Doch steuern so die Lebensmöglichkeiten oder -unmöglichkeiten auf eine Verdichtung zu: auf das Notwendige und auf Klarheit. Die materielle Beschränkung habe ich nicht gewählt, doch nehme ich sie an. Was ich aber schon immer gesucht habe, ist etwas in mir, das nun im Annehmen des Schmerzes deutlicher wird: Es ist das Nichts und das Alles.
Und an der Wand hängt mein Testament.

139

Warte ich darauf, dass du stirbst und mich frei lässt? – Und welche anderen schonungslosen Ungeheuerlichkeiten werden mich heute noch überfallen! – Im Laufe des Morgens erinnere ich mich, dass die Mutter immer gehofft hat (auch mit Hilfe von Wahrsagerinnen, auch mit meinem kindlichen Zuspruch), der Vater würde sterben, und sie wäre frei und könnte das Haus und das Auto behalten. Das ist das weibliche Hoffen auf eine einfache Lösung, die einen aus der eigenen Gegenwart befreien soll.

140

Du sagst: „Mit denen stimmt etwas nicht“, und meinst die Menschen hier. „Deshalb sind sie hier“, antworte ich, und du erschrickst, weil du meine Antwort auch auf dich beziehst.
„Du denkst sehr viel darüber nach, was passiert“, sage ich, und du nickst: „Ja“, sagst du.
Beim Essen der Schokoladencrème, die ich dir eingebe, sagst du: „Sie ist schön, solange ich esse, und dann vergesse ich es. Dann weiss ich nicht mehr, dass sie schön ist.“ – Und ich antworte, dass man den Geschmack noch erinnern kann, auch wenn man ihn auf der Zunge vergisst. Und mit diesem unbedachten Trost beschönige ich dein ‚Vergessen‘, das keine Aussicht hat, erinnert zu werden: Es bleibt vergessen.

141

HERBST
Nach Jahren, in denen ich angenommen habe, ich hätte deinen Laptop verloren oder gar weggeworfen, finde ich ihn wieder.
Auf den abgenutzten Tasten sehe ich die Spuren deiner Finger, und neben dem Leerschlag ist die Fläche matt, dort wo du deine Hand aufgestützt hast.
Ich hoffe in deinen mails, in den Fotografien, vielleicht auch in Texten mehr über dich zu erfahren:
2011 schreibt du in einem Mail an den Treuhänder etwas von neuen Steuern für Häuser auf der Insel. Das erstaunt mich, denn ich hatte keine Ahnung von neuen Steuern. Ich musste mich auch nie darum kümmern: Du hast die Steuerunterlagen gesammelt, die Post umleiten lassen, das Telefon vor der Abreise abbestellt, du hast die Arbeiten gemacht, die mir zuwider waren.
In einem anderen Mail gratulierst du der Schwägerin in unserer beider Namen zum Geburtstag, mit lieben Worten und Wärme. Einmal brauchst du das Wort ‚innig‘. Und das ist es, was deine Begegnung mit Menschen ausmachte, auch heute noch ausmacht.
2012 schreibst du: „Es ist einfach eine Stimmung, die mir nicht entspricht.“ Damit meintest du die Stimmung in der Stadt, in der wir ein halbes Jahr möbliert wohnten, weil ich in der Nähe arbeitete. Es ist die Stadt, in deren Einzugsgebiet ich aufgewachsen bin, und die in meiner Kindheit „die Stadt“ war.
Doch von deinem Unbehagen wusste ich nichts, schob es vielleicht auch einfach zur Seite, wie ich vieles zur Seite geschoben habe, das du anders erlebtest als ich.
Einmal schreibst du der Schwägerin und dem Bruder, dass du dich einsam fühlst, wenn ich arbeite. Auch davon wusste ich nichts, obwohl ich deine Einsamkeit hätte ahnen können.
Und im Mai 2013 schreibst du: „Ich denke manchmal an unsere schöne Wohnung in Basel“, – mit vielen Punkten dahinter.
Die Antwort an den Himmel lautet: Vergib mir –

Die halben Jahre in der Schweiz, meine Arbeitseinsätze und deine Einsamkeit in fremder Umgebung, waren für uns beide aufreibend. Und in Griechenland? Wie war es für dich dort? Darüber schreibst du nur, wenn du über das Schwimmen schreibst: dass du im Wasser warst, dass das Wasser zu kalt war, dass du nur mit den Füssen drin warst und noch warten wolltest, bis es wärmer wird, dass du zum ersten Mal, zum zweiten Mal hineingegangen bist, oder dass du jeden Tag schwimmst. – Mehr erfahre ich über dich nicht. Umso mehr erfahre ich, was ich erlebte. Darüber berichtest du ausführlich.
Im Laptop finde auch einen längeren Text von dir, eine griechische Geschichte, die dir geschehen ist, und deine Direktheit, deine menschliche Wärme, dein Talent zur Begegnung lassen mich im Wiedererkennen auflachen.
Dieser Text ist der einzige längere Text, den ich finde.
Im November 2013 schreibst du zum ersten Mal ein Wort phonetisch, wie du es hörst, und Ende 2014 beginnen deine mails holprig zu werden.

142

Ταξίδι στα Κύθηρα – Reise nach Kythira:
Frühmorgens warte ich im Bergdorf auf den Bus, schläfrig, mit unsichtbarem Beben in der Unterlippe. Ich mache mich auf den Weg, unser Haus in Griechenland zu räumen: Bücher, Schriften, Andenken. Ich reise zum ersten Mal allein auf die Insel und ringe um Haltung.
Es drängt mich, den anderen Wartenden von unserer Tragödie zu erzählen, aber ich schweige, wie sie schweigen.
Entlang der Autobahn wachsen Goldruten in Büscheln, und im trüben Nebel kauert der dunklen Auenwald am Fusse des Bergs.
Immer noch beben meine Lippen hinter der Covid-Maske, und immer noch sind meine Augenlider schwer.
Vor dem Tunnel überholt der Bus einen Tanklaster, grüsst mit einem kurzen Hupen, und mir ist, als wäre ich schon auf der Insel.

Athen, Flughafen, Sofitel-Launch:
Der dicke Grieche am Nebentisch schreit in sein Handy, als ob er die Strecke zum Andern durchs Telefon überschreien müsste.
Am Ende der gedeckten Terrasse warten junge Frauen in Formation, den Blick über den Parkplatz auf den Flughafen gerichtet: alle blaugekleidet, alle mit Dutt. Zwei junge Männer, lässig die blauen Hemden über der Hose tragend, sitzen geschäftig und herrschaftlich an einem runden Tisch hinten rechts. Auf einer langen Tafel nahe der Terrassenkante sind blaue Papiertüten aufgereiht, dort wo die Gäste erwartet werden. Doch die kommen nicht. Ein Abgesandter, auch er mit Hemd über der Hose, trottet vom Flughafen her zurück zu den Frauen. „Amazoe“ steht in europäischer Schrift auf seinem Schild.
Die Frau des immer noch Schreienden am Nebentisch lächelt in ihr iPhone.
Ein erster Kleinwagen fährt mit blaugekleideten Damen und dem Abgesandten auf die Flughafenstrasse hinaus, ein zweiter Kleinwagen fährt hinterher. Der Rest der jungen Frauen und die beiden Männer scharen sich um eine ältere Frau, die – ohne Dutt – am runden Tisch sitzt und Umschläge verteilt.

Kythira:
Ich beende etwas, das schon lange zu Ende ist: Ich lasse das Auto entsorgen, ich gehe Bücher, Unterlagen, Hüte, Kleider durch, entscheide zwischen Behalten und Wegwerfen, zwischen Rigorosität und Respekt.
Ich sortiere Bücher aus, die uns einmal wertvoll waren, und fülle sie in parfümierte grosse Abfallsäcke, weil kein Antiquar mehr einen Tucholsky ankauft, einen Jean Améry oder Malraux, einen Joseph Roth, wenn da nicht eine Widmung oder mindestens eine Signatur auf dem Vorsatz steht. Auch gutes, schönes Buchhandwerk, auch Erstausgaben, die vor zwanzig Jahren noch teuer gehandelt wurden, sind heute nicht mehr von Interesse. Nur noch Ausserordentliches, von dem man sich beim Wiederverkauf Gewinn verspricht, wird noch in die Hand genommen. Es ist das gleiche Phänomen, das die bildende Kunst schon länger diktiert: der Neid der Andern.
Doch beim Aufräumen entlarvt sich auch meine Raffgier, mein Dünkel: In jedem Zimmer gibt es Regale, vollbepackt mit hunderten Büchern, gibt es Atmosphäre des Erlesenen, Belesenen, das ungelesen blieb.
Ulysses steht in zwei verschiedenen Ausgaben im Regal, als ob ich durch Auswahl einen einfacheren Zugang in den Text finden wollte.
Nun bestimmt also das Antiquariatsverzeichnis im Internet, welche Bücher in den parfümierten Säcken landen und welche in Umzugskartons: Zustand, Auflage, Ausgabe, Preis.
Oscar Wilde, deutsche Erstausgabe – in jämmerlichem Zustand; Maxim Gorki, nie gelesen – um die Klammerbindung herum verrostet; die Nikolauslegende, dünn broschiert, über Jahre behalten, weil du in der Strasse in den Neunzigerjahren der Nikolaus warst: Ich werfe sie alle in den Müllsack.
In einem Regal steht die Sammlung von Filmen, die wir uns an Winterabenden unzählige Male angesehen haben. Und nun, da ich hier allein bin und auch die DVDs durchsehe, merke ich, dass ich sie nicht mehr ohne Trauer anschauen könnte und werfe sie alle weg.

Ich räume auf, was vergangen ist, ich ordne und werte und bewege mich in diesem Haus, von dem ich behauptete, es sei meines, wie in Trance.
Es ist mir vertraut und fremd wie ein Hotelzimmer, das einem vertraut und fremd ist.
Doch seit ich entschlossen bin, mich von ihm zu trennen, ist eine Kraft in mir, die mich aufrecht hält.

Ich suche im Mottenschrank nach Wollstrümpfen und wühle in Stapeln von Pullovern für Winter, die wir hier verbringen wollten, bevor wir wussten, dass wir nur noch kurz im Sommer hier sein konnten. Die Kleider sind mir in den Jahren zu klein geworden; inzwischen habe die Schlankheit meiner Jugend verloren.
Auch unsere Kleider packe ich in Säcke und bringe sie der Nachbarin für die Kirche, die sie dem Altersheim auf der Insel weitergeben wird. – So schliesst sich der Kreis.

Zuoberst im Bücherschrank liegen deine Dokumente: Der Pass deines Vaters, darin zwei kleine Fotos seiner Kinder eingestanzt: von dir und deinem Bruder.
Ich versuche aus deinen Augen herauslesen, was für ein Kind du warst.
Ich gehe zwei Tage lang Briefe, Fotoalben, Unterlagen durch und frage mich dabei, was ich hier eigentlich mache. Es scheint mir, als ob ich auf der Suche nach dir sei, und nach mir, die ich mit dir war.
In Briefen, von kindlicher Hand an die Mutter und den kleinen Bruder, erfahre ich, dass du fast ein ganzes Jahr in einem Kinderheim in der Südschweiz zur Kur warst, und ich lese aus ihnen einen Schmerz, den ich in dir nie wahrgenommen habe. Und dabei stellt sich mir die Frage, was denn mein verborgener Schmerz ist, dass ich deinen nicht erkannte?

Bei Sonnenuntergang sitze ich am blauen Metalltisch auf der Terrasse, mit Wein und Oliven, und schaue aus dem Innenhof hinaus auf die weite Ebene unter uns, mit dem Beigeschmack des Unwirklichen, ja der Gefährdung einer Selbstbeobachtung: Ist dies der Abschied von etwas, das gar nie Wirklichkeit war? Waren wir hier wirklich zuhause? Waren wir wirklich fast schon Einheimische, nur weil wir länger hier waren als andere Touristen? Ich fahnde in der Vergangenheit und finde Ideale, die unser Leben bestimmten, und habe trotz der guten Jahre eine Bitterkeit im Mund, als hätte ich in der Vorstellung gelebt und nicht selbst.
Und dann merke ich, dass ich gar nicht über den Verlust trauere, sondern nur selbstmitleidig bin.

Abends in den Restaurants im Nachbardorf treffe ich die Paare, mit denen wir jahrelang zusammen ausgegangen sind. Wir begegnen uns nun – ohne dich – mit Distanz und ohne Wärme; und Näheres wollen sie über dein Schicksal nicht wissen.

Aus dem Schlaf aufgeschreckt: Mir läuft die Zeit davon!

143

Nach meiner Rückkehr finde ich in deinen Monologen aus Kauderwelsch und verdrehten Worten mehr, als ich verstehen kann. Doch muss ich immer tiefer nach dir graben und werde müder und müder. Du hast dich in eine Welt entfernt, die für mich unerreichbar geworden ist, und meine Versuche, dir in diese Welt zu folgen, erschöpfen mich.
Einmal meine ich zu verstehen: „…ist zurückgekommen.“
„Ja“, sage ich, als ich endlich begreife, was du damit meinst: „Ja, ich bin aus Griechenland zurückgekommen. Ich habe das Haus vorbereitet, weil wir es verkaufen müssen.“
Da lachst du auf: Ich habe dich verstanden. Was für ein Glück!
Du erzählst und erzählst. Du freust dich, dass ich da bin, – und ich freue mich über deine Freude.
In deinen Monologen verstecken sich noch andere Stichworte: „verkaufen“ (das Haus), „Laden“ (dein Geschäft). „Du hast den Laden auch verkauft“, sage ich. „Gut so“, sagst du. „Ich kann nicht mehr“, sagst du. „Du kannst immer noch, was du immer gemacht hast. Du hast immer darüber nachgedacht und gespürt, was mit den Menschen los ist. Deine Bücher sind weg, der Laden ist weg, aber du denkst immer noch nach.“ – „Wie weisst du das?“ fragst du. „Ich merke es daran, wie du mit mir sprichst.“

Ich muss meinen Liebsten gehen lassen. – Ich weine und weine.
Ich schlafe viel und weine viel.
Dir sage ich, dass es gut ist, wie es ist. Und das meine ich auch so.

144

Traum:
Ich gebe im Gemeindehaus einen Kurs. Dein Bruder ist auch da, zusammen mit vier Freunden. Sie verziehen sich in andere Räume, um nicht zu stören, denn sie tanzen zu wunderbarer orientalischer Musik.
Ich trage dich auf dem Arm, und dann liegst du in meiner Wohnung bäuchlings auf einer – ebenfalls orientalischen – Matratze auf dem Boden und schaust dich um.

145

WINTER
„Ich wohne jetzt im selben Dorf wie du und atme dieselbe Luft“, sage ich. – „Ich will mit dir“, sagst du. Und ich verstehe: Du willst sehen, wie ich wohne. „Wir werden die Stationsleiterin fragen, ob das möglich ist“, sage ich. „Aber heute arbeitet sie nicht.“
Am nächsten Samstag arbeitet sie auch nicht, und du sagst nichts, als ich dir nochmals erzähle, dass ich im gleichen Dorf wohne.
Am darauffolgenden Samstag sagst du: „Ich will mit dir.“ Und heute ist die Stationsleiterin da. Also besprechen wir zu dritt, ob und wie wir deinen Besuch bei mir ermöglichen können. Am Freitag der nächsten Woche, – an ihrem freien Tag! –, schiebt dich die Stationsleiterin im Rollstuhl das Dorf hoch zu mir ans andere Ende der langen Hauptstrasse. Es ist Winter, und es liegt Schnee.
Mit Entschlossenheit überwindest du die sieben Stufen zur Eingangstür des Hauses – so sehr willst du zu mir. Wir feuern dich an, denn seit deinem Oberschenkelhalsbruch bist du nie mehr Treppen gestiegen.
Wir setzen dich in jedes Zimmer, und du schaust mit offenen Augen um dich.
Bei Kaffee und Kuchen kippt deine Zufriedenheit in Enttäuschung und in Selbstvorwürfe. Du fängst an darüber zu schimpfen, was du alles nicht kannst. Du gabelst die Kuchenstücke auf, die immer wieder auf den Teller zurückspringen; anders als im Heim willst du nicht mit den Fingern essen. – Erst als ihr wieder weg seid, realisiere ich, dass ich das Problem provoziert habe, dass ich kopflos Gabeln aufgedeckt habe, weil man das so macht, wenn Besuch kommt, und weil ich eine perfekte Gastgeberin sein wollte.
Die Stationsleiterin lässt uns eine Weile allein, und wir sitzen uns schweigend gegenüber. Ich weiss nicht, was ich dir sagen könnte, und du ziehst dich ganz in dich zurück.
Vielleicht ist dies das Schweigen, das uns erkennen lässt, dass wir getrennt sind, – nicht nur räumlich, nicht nur in den Lebensumständen: Jedes ist für sich allein geworden.
Nach zwei Stunden wirst du wieder in Lammfelljacke und Wolldecken gepackt. Und nachdem ihr gegangen seid, sehe ich ein, unschön und hart, dass du bei mir sein wolltest, aber ich gar nicht da war. Ich war in meinen Vorstellungen von einem perfekten Besuch.

Drei Tage danach sitzen wir wieder auf dem Sofa im Heim. Beide sind wir über uns selbst enttäuscht. „Ich habe mich sehr über deinen Besuch gefreut“, sage ich. „Aber es gelang nicht alles so, wie ich es mir erhofft habe. Mein Ort ist ein anderer als deiner, und damit habe ich nicht gerechnet.“
In deinen Augen lese ich Zustimmung.
Später erfahre ich von einer Pflegerin, dass du in den Tagen nach dem Besuch – im Rollstuhl sitzend – unruhig durch die Räume gehetzt seist.

„Alles, was geschieht, ist gut! Amen!“


	

1 Kommentar

  1. Hallo Susanna

    Wenn sich geistig die Wege trennen, dann werden die Begegnungen seltener, auch wenn die Körper sich noch nahe sind. Aber die Körper sind nicht alles, nur das was zurück bleibt. Wie eine Verpackung. Wie sagte schon der Mensch, mit dem Namen Jesus, der leider sehr verspottet wurde, aber von Herzen demütig und sanft ist: Folge mir nach …

    Einen lieben Gruß
    Pneuma

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