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WINTER
Du sitzt allein im Gartenzimmer und sprichst mit dir selbst. Du habest die Mitbewohner mit deinem lauten Gesang gestört, sagt die Pflegerin, deshalb musste sie dich verlegen.
Als wir auf dem Sofa sitzen, sagst du: „Hier stirbt man schnell, und dann ist nichts mehr.“ Du schaust mich an, und ich antworte: „Ob nichts mehr ist, weiss ich nicht, das weiss niemand. Vielleicht ist dann etwas anderes und nicht nichts.“ Mich dünkt, du bist mit dieser Antwort zufrieden. Und zur Pflegerin sagst du: „Ich bin nichts.“ Natürlich interveniert sie: „Das würde ich so nicht sagen. – Sie sind sehr wohl etwas.“ Aber was meinst du, wenn du „Ich bin nichts“ sagst?
Wir singen: Du singst mir ein Lied, und ich singe dir ein Lied, und allmählich wirst du ruhig. Ich halte deine Hände, du bist ganz nah und sagst: „Die Anderen denken über mich, ich bin schwer.“ – „Du bist jemand, der sehr viel nachdenkt und sehr viel spürt.“ sage ich. „Und das ist wichtig.“
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Aus mir kommt ein Wimmern wie aus einem Tier. Ohne Absicht, ohne Gedanken. Es ist kein Wehklagen, es ist ein Wimmern. Ich konnte dich heute nicht mehr verstehen, ich konnte nur deine nicht mehr verständlichen Worte wiederholen. Wir führten ein Gespräch, das nicht mehr wusste, was es redet. Nur einmal kam ein Halbsatz: „Und mein Bruder“, sagtest du. „Ja, das wäre schön, wenn dein Bruder hier wäre.“ Und du hast genickt.
Unsere Nachmittage füllen sich mit Vortasten und Abwarten, mit Mitschwingen und Schweigen, sind eine Art unkenntlich leerer Raum, in dem die Zeit vergeht. Ich singe dir vor, und du schlägst den Rhythmus mit deinen Händen, und wippst leicht mit den Füssen. Und wenn ich dir, bevor ich gehe, ins Ohr flüstere: „Ich komme am Samstag wieder“, murmelst du so etwas wie: „Ja, das weiss ich doch…“ – „Ich weiss schon, dass du’s weisst. Ich sage es dir trotzdem immer wieder.“ Und wir lächeln beide.
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Heute habe ich einer Bekannten über mich etwas erzählt, das mir erst im Moment des Aussprechens bewusst wurde: Deine Krankheit hat mich dazu gebracht, den Kern meines Daseins zu erfahren.
Und auch wenn ich über all das weine, was geschieht, ist dies das Beste, was mir passieren kann. Es ist das, was mein Leben ist.