2022 – Der Nachmittag des Abschieds

Der Untergang

Das Erkennen von Falsch und Richtig

ergibt noch nichts Wahres.

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WINTER
Heute ist der Vorhang des Vergessens zwischen dir und der Welt offen, und lässt den Hader durch, darüber, was ist und was nicht mehr sein kann. Er lässt aber auch Gedanken und Sätze durch. die ganzen 1 1/2 Stunden, die ich bei dir bin, sind wir im Gespräch. Einmal sagst du: „Ich machte, machte, und es gelang.“ Und ich zähle dir auf, was du alles gemacht hast, und wie es gelang, und was wir zusammen gemacht haben, und wie es gelang. Und dass jetzt die Zeit ist, nichts mehr oder immer weniger zu machen.
„Ich weiss nichts mehr“, sagst du. Und ich kann nur erahnen welche Zweifel, welche Verzweiflung hinter diesem Satz stehen. „Du weisst, dass es gelungen ist“, insistiere ich. Doch du schüttelst den Kopf, leicht und bestimmt, immer wieder. Worüber schüttelst du den Kopf? Was ist so unmöglich?
Und dann meine ich in deiner Rede zu verstehen, dass du nichts mehr bist oder immer weniger bist, und ich antworte: „Und wenn gar nichts mehr ist, und wir gar nichts mehr sind, dann sind wir alles.“ Und du schüttelst wieder den Kopf. „Es ist nichts mehr da“, sagst du. Und ich sage: „Die Liebe ist da, am Schluss ist die Liebe da.“ Und auch da schüttelst du den Kopf. Und ich weiss, früher hättest du mir zugestimmt: „Am Schluss ist die Liebe da.“ Aber heute erfährst du, dass am Schluss nichts mehr da ist.
„Nichts.“ – Ich halte meinen schalen Trost, mein schöngeistiges „Alles“ deiner Erfahrung entgegen, die du ganz real mit diesem Nichts machst.
Und dann fällt der Name deines Bruders. „Wo ist er?“ Und ich sage: „E. ist dort, wo die Mutter liegt.“ – „Das ist nicht gut! Das ist gar nicht gut!“ – „Es geht ihm dort aber gut. Das ist schon richtig so“, antworte ich.
Einmal sagst du: „Sie kommen und dann gehen sie wieder.“ Und dann: „Wenn er kommt, gehe ich mit ihm.“ – „Du darfst gehen, wenn er kommt, und du mit ihm willst.“ Diese Antwort scheint dich zu erleichtern. „Mit mir ist nicht mehr gut“, sagst du. Und ich antworte: „Ja, was passiert, ist sehr schwer und das anzunehmen, ist noch viel schwerer.“ Und einmal fragst du mich: „Kannst du noch machen?“ – „Ich kann schon noch Sachen machen, die mir wichtig sind. Aber es gibt auch Sachen, die kann ich nicht machen, und das muss ich akzeptieren. Und anzunehmen, was man nicht mehr machen kann, ist grosse Lebenskunst.“
Und nach 1 1/2 Stunden beschliesst du aufzustehen, und ich begleite dich zur Küche an den grossen Tisch, wo die anderen schon auf den Kaffee warten. Ich flüstere dir ins Ohr, dass ich am Samstag wiederkomme, und du nickst lächelnd.

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Ich setze mich auf einen Stuhl neben dein Bett. Du döst, und ich halte dich und döse auch. Dann wird mir die schräge Haltung unbequem, und ich knie mich hin, auch damit ich dir näher bin. „Du bist mein Liebster“, sage ich.“ Du fragst: „Warum sagst du das?“ – „Weil du mein Liebster bist.“ – „Aber ich bin zuviel“, sagst du. „Mir bist du nicht zuviel. Es gibt schon Menschen, denen man zuviel ist, aber es gibt auch andere.“
In letzter Zeit entschuldigst du dich auch immer wieder: „Bin ich ein Böser?“ fragst du, wenn du mich vor Lust beissen willst; als müsstest du meine Reaktion vorausnehmen, bevor ich dir Grenzen setze.
(Und wenn ich jetzt darüber nachdenke, frage ich mich, ob du auch früher befürchtet hast zuviel zu sein oder böse zu sein, und dich deshalb in deiner Lebendigkeit mehr zurückgenommen hast, als ich ahnte.)

„Du bist lieb“, sagst du dann zu mir. Und irgendeinmal sagst du mit Heftigkeit: „Ich bin nicht böse!“ – „Ja“, sage ich: „Du bist nicht böse! Du bist ein guter Mensch.“ Dann beginnst du einen Satz und scheust dich ihn zu beenden: „Wir haben…, – aber ich sage es nicht.“ Und als klar wird, dass du nicht weiter reden wirst, bitte ich dich um Verzeihung, weil ich dich so häufig nicht gehört habe.
Während wir reden, sagst du immer wieder: „Oh, wie schön, oh wie schön wir haben!“ – „Ja, wir haben es schön, und was wir erlebten und erleben, das ist alles gut.“ Und dann sagst du: „Ja, und auch bei mir!“

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„Geld“, verstehe ich, und später: „Liegt noch drauf?“ – „Nichts liegt mehr drauf!“ antworte ich, und du erschrickst. „Deshalb verkaufe ich das Haus, damit wieder etwas drauf liegt.“ Da bist du beruhigt.
(Doch wird es noch Jahre dauern, bis das Haus verkauft sein wird, denn die Weltlage ist nicht mehr günstig für einen Immobilienverkauf.)

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Mail an J.
Zum eigenen Leben kommen, eigenständig werden, heisst auch, eine eigene Haltung zu bekommen, den Mut zu haben „Ich“ zu sein und dem Andern als Du zu begegnen, aber vor allem den Mut zu haben, wahrzunehmen, was die eigene Wahrheit ist.
Zu diesem Punkt, lieber Freund, möchte ich Dich um einen Gefallen bitten: Ist Dir gestern bei Deinem Besuch bei uns etwas aufgefallen, das Dir ein Gefühl der Unstimmigkeit gegeben hat. Ich suche immer noch meine Verfangenheit, die es mir verunmöglicht, uns wirklich zu sehen, und das, was mit uns eigentlich geschieht. Vielleicht hast Du etwas gesehen, was mir da weiterhelfen könnte. Oder generell: Welchen Eindruck hattest Du nach Deinem Besuch?

Mail von J.
Zu deiner Bitte über meinen Eindruck gestern – ich versuche dir zu antworten, so wie ich deine Bitte verstanden habe. Ich weiss nicht, was du meinst mit ‚Verfangenheit‘, denn ich kenne diesen Ausdruck nicht. Mir ist nichts Unstimmiges aufgefallen. Mich hat die Liebe, die ihr einander entgegenbringt, du in deiner, M. in seiner Möglichkeit, sehr berührt. Ich habe aber auch deinen grossen Schmerz dabei wahrgenommen.

Mail an J.
Da ist eine grosse Liebe, da hast Du recht.
‚Verfangenheit‘ ist ein Ausdruck von mir: Ich meine damit, dass wir Menschen uns durch unsere Lebensgeschichte ein Bild von uns machen, das sich teilweise mit unserer Wahrheit deckt und zu einem anderen Teil diese verdrängt, und dass wir das Gegenüber aus diesem Grund auch nur in Ansätzen wahrnehmen können. Deshalb habe ich dich gebeten, mich darauf aufmerksam zu machen, wo ich zuwenig wahrnehme, was wirklich geschieht, wenn ich bei M. bin.

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Dein Arm sucht mich: Wie eine Schlange fährt er durch die Luft, nähert sich und schwankt wieder davon. Ich helfe dir meine Schulter zu finden, schmiege mich an dich. Nun kannst du mich in den Arm nehmen.

Plötzlich sagst du: „Und da ist noch etwas: Ich will nicht mehr!“ Und ich antworte: „Du musst auch nicht mehr. Es ist alles gut.“ – „Und wenn sie dann kommt, musst du auch da sein!“ sagst du. „Natürlich bin ich dann auch da.“ – „Es wird sehr wenig“, sagst du, und ich antworte: „Dafür wird es nachher sehr viel sein, sehr reich.“ Und du fragst mich: „Warum sagst du das?“ – „Ich weiss es nicht, aber ich habe das Gefühl, dass es so sein wird.“

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„Ich sehe dich“, sagst du. – „Und ich sehe dich.“ Wir klammern uns aneinander wie Ertrinkende. Später setze ich mich bewusst über die Grenze deiner Krankheit hinweg und erzähle dir von der Enttäuschung, die mir gestern widerfahren ist: „Ich habe mich mit einem Mann verabredet, der unsere Insel auch kennt. Ich habe mich gefreut, mit ihm über das Leben dort sprechen zu können.“ – „Gut“, sagst du. „Gleich zu Anfang des Treffens ging er zu einem Bekannten im hinteren Raum und hat mich vorne im Café sitzen lassen. Nach etwa zehn Minuten habe ich bezahlte und bin gegangen.“
Wie früher, wenn dir jemand von seinen Problemen erzählt hat, versuchst du mir nun Klarheit über das Erlebte zu geben und es einzuordnen.
Du suchst nach Worten, aber findest sie nicht.
Nach einer Viertelstunde sagst du: „Ich warte, warte, warte!“ – „Ja, ich habe gestern im Café lange gewartet.“ Und etwas später sagst du: „Es gibt viele dumme Idioten!“

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Du sitzt still da, den Kopf an meine Schulter gelehnt und lächelst. Dann erzählst du mir etwas, das ich nicht verstehen kann. Ich sage: „Es ist ein Glück, dass wir uns auf dieser grossen Welt begegnet sind.“ Und du sagst: „Du bist schwer und dünn, und ich bin dünn und schwer.“ Und ich verstehe, dass da etwas zusammengehört. Dann fängst du an zu singen und klopfst mit den Füssen den Takt. Du singst ein Lied, das mich an ein Musikstück erinnert, und als du aufhörst, summe ich dir dieses vor. Du hörst mir zu, und deine Hände dirigieren zart den Takt auf deinen Oberschenkeln. Und als ich aufhöre zu singen, bricht es aus dir heraus: „Ich liebe dich! Ich liebe dich!“

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Ich merke, dass etwas in dir arbeitet, dass du etwas zum Besseren verändern willst. Und ich sage: „Ich habe den Eindruck, dass du etwas ganz fest verändern musst. Aber weisst du: Es kommt und geht von selbst.“ Und dieses „Kommt-und-geht-von-Selbst“, tröstet dich. Dein Gesicht hellt sich auf.
Es ist das, was ich mir auch immer wieder sagen muss: „Es kommt und es geht von selbst.“ Auch wenn ich in manchen Momenten daran zweifle, ob es wieder anders kommt.

Einmal sagst du: „Ich denke immer an dich.“

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Ich kann über Monate nicht mehr schreiben. Es befremdet mich, an den Tisch zu sitzen. Es ist, als ob ich den Faden verloren hätte, diesen Faden, der mich in den Schmerz führt, denn das Schreiben führt mich jedes Mal wieder in den Schmerz.

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Traum:
Dein Bruder, die Schwägerin und du und ich wohnen in einem Haus, das am Wasser steht. Hinter dem Haus ist ein kleiner Podest aus Eisengittern, dessen Metalltreppe hinunter zum Fluss führt oder zum See.
Jeden Morgen zieht ihr, dein Bruder und du, die dunklen Kleider aus und taucht ins frische Wasser. Das ist euer rituelles Bad.
Danach esst ihr eine Art Fastengebäck, das der Bruder in der jüdischen Bäckerei frühmorgens besorgt hat.
Für mich ist nun die Zeit gekommen, mit euch zusammen am Morgen ins Wasser zu tauchen. Nur weiss ich noch nicht, ob ich mich im Zimmer ausziehen soll und nackt durchs Haus gehen, oder ob ich mich dort ausziehen soll, wo ihr euch auszieht – am Wasser.
Die Schwägerin kann ich nicht fragen: Sie badet nicht.
Ich trage nun ebenfalls dunkle Kleider.

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FRÜHLING

Auf der Terrasse hat die kleine Spital-Clownin ihren Auftritt. Wir sitzen in der Reihe der anderen Bewohner.
Du hast die Augen geschlossen und öffnest sie auch nicht, als die Clownin versucht, deine Aufmerksamkeit zu bekommen.
Erst als sie mit der Harmonika direkt vor dir steht und mit roten Lippen singt, und die kleine Nasenspitze und das schiefe Käppi so hübsch aussehen, da gehen deine Augen weit auf, und du schaust und schaust.

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Ich bin in die Rolle der Krankenschwester geraten. Ich rede und lache und versuche das Schreckliche leicht zu nehmen, um dir meinen Schmerz über deine Veränderung nicht zu zeigen.
Ich umarme dich, ich füttere dich und halte dir die Hände. Und ich beobachte dabei, wie ich dich umarme, wie ich dich füttere und dir die Hände halte. Und ich beobachte, wie ich auf die Uhr schaue, und es noch nicht spät genug ist, dass ich gehen kann

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Die Frau der Alzheimer-Vereinigung sagt: „Es sieht so aus, als ob Ihr Mann auch die letzten Schritte der Krankheit, die der Agonie, gehen muss.“

Du sagst zwei Worte, dann versickert die Botschaft in dir.
Ich singe unsere Lieder, und wenn du gegenwärtig bist, singst du lauthals ein paar Takte mit, bis auch das Singen versickert.
Du sagst: „Alles gut, alles gut.“ Ja, alles, was geschieht, ist gut, auch wenn das, was geschieht, mir das Herz zerreisst.

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Ich bin zu früh für den Termin bei der Stationsleiterin und schaue noch schnell bei dir vorbei. Du liegst im Bett, und ich halte deine Hand. „Heute ist nicht Samstag, heute spreche ich mit der Stationsleiterin“, sage ich.
Als ich mich umdrehe, weil nun Zeit ist zu gehen, sagst du: „Ich mit dir.“ – „Willst du bei diesem Gespräch dabei sein?“ frage ich, und du verdrehst kindlich charmant die Augen und sagst: „Das kann ich jetzt nicht sagen…“
Für die Stationsleiterin ist es keine Frage dich dabeizuhaben.
Doch unserem Gespräch zu folgen, ist dir nicht mehr möglich. Du übersingst lauthals, dass ein Medikament abgesetzt wurde, weil du den Alzheimer-Test nicht mehr bestehst, und deshalb die Krankenkasse die Kosten nicht mehr übernimmt. Du singst und singst und hältst deinen Kopf an meine Stirn. Ich halte dich fest, aber beruhigen kann ich dich nicht.
Als wir wieder auf dem Sofa sitzen, du in meinem Arm, sage ich: „Du hast ein Medikament weniger, aber die Stationsleiterin sagt, dass es dir gut geht. Darüber bin ich sehr froh. – Und nun gehen wir an die Sonne und erholen uns von dieser Aufregung.“

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Noch vor wenigen Jahren sassen wir zusammen mit deinem Bruder und der Schwägerin in unserem Stammlokal in der Stadt. Noch vor wenigen Jahren amüsierten wir uns mit Wortspielereien – dein Bruder und ich. Und nun liegt er auf dem Friedhof. – Was ist das, dieses Mysterium, das wir Leben nennen und das plötzlich weg ist und uns allein lässt mit unserem Leben? Was ist das, was wir Tod nennen?

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Der Nachmittag des Abschieds
Du reibst deinen linken Ringfinger und sagst: „Da war ein Ring!“ – „Ja, da war ein Ring. Den bewahre ich in meinem Portemonnaie auf, weil er einmal verloren gegangen ist. Da stand dein Bett noch im zweiten Stock. Nach zwei Monaten fand man ihn wieder und hat ihn mir gegeben, damit er nicht wieder verloren geht.“ Ich hole das Portemonnaie und zeige dir, wo ich den Ring aufbewahre. Ich stecke ihn dir an den Finger und halte meine Hand neben deine: Unsere Ringe mit der Welle des Auf und Abs des Lebens. „Soll ich deinen Ring weiter aufbewahren, damit er nicht verloren geht?“ – „Ja“, sagst du.
Und später sagst du – und das habe ich zuerst gar nicht verstanden: „Verkaufen und dann hätte man wieder etwas Geld –.“ Ich antworte: „Unsere Eheringe werde ich nie verkaufen, die sind mir zu wichtig.“ Und vielleicht ist es diese Zusicherung der Treue, die es dir ermöglicht, meinen Arm von deiner Schulter zu nehmen: „Das möcht’ ich jetzt nicht!“ Du setzt dich auf die Kante des Sofas, um aufzustehen. Doch weil du das nicht mehr allein kannst, lässt du dich schräg nach hinten fallen, weg von mir und fragst: „Wann stehst du auf?“ – „Ich kann grad aufstehen“, antworte ich und stehe auf und will dir beim Aufstehen helfen. „Nein“, sagst du. Du willst sitzen bleiben.
So setze ich mich auch wieder hin und lege meinen Kopf an deine Wange. Doch du zuckst zurück: „Das will ich nicht!“
Ich sage: „Was du jetzt machst, tut mir weh, aber es ist sehr wichtig, was du machst. Du hilfst mir. Wir sind beide in einer Zeit – ich weiss nicht, wie ausdrücken…“ Und du sagst: „Du musst gar nichts sagen!“ Ich schlucke leer. Du fragst: „Wann gehst du?“ Und: „Adieu!“ Ich nehme mein Portemonnaie und stehe auf. Ich weiss nicht mehr, wie reagieren. Aber dann steht du auch auf, mit wackligen Schritten, und ich reiche dir die Hand, die du nehmen musst, und wir gehen in die Küche, wo die anderen sitzen. Du sagst: „Das will ich eigentlich nicht, ich will nach oben. Aber es ist jetzt auch egal.“
Du setzt dich an den grossen Tisch, ganz klar, ganz gerade. Ich sage: „Du hast heute von mir Abschied genommen. Aber ich komme am Samstag wieder, und auch an den anderen Samstagen.“ – „Ja, ist gut…“, sagst du, „wenn das halt so ist…“
Ich lasse die Tagesverantwortliche rufen und berichte ihr im Büro, was geschehen ist, einerseits, weil ich überrollt bin und es jemandem erzählen muss, andererseits, um sie zu bitten, ein Auge darauf zu haben, wie es dir im Laufe des Nachmittags geht. – Dann verabschiede ich mich.
Unser Muster der letzten Jahre – ich, die halte, und du, der sich anlehnt –, hast du heute mit einem Handstreich weggewischt, und das erinnert mich an den intelligenten, redegewandten Mann von früher, mit seiner Lebhaftigkeit und Bestimmtheit.
Du löst unsere vertraute Nähe auf, damit wir für den Abschied frei werden. Und du sorgst mit deiner Abweisung dafür, dass ich diesen Schritt auch tun muss.

Traum:
Wir streifen durch die Wildnis und freuen uns an unserer Verwegenheit.
Wir gehen nebeneinander, manchmal gehst du auch voraus und schiebst mir das Gebüsch aus dem Weg.
Und dann merke ich, dass wir nicht auf dem Waldboden gehen, sondern in den Wipfeln der Bäume. Wir gehen über hängende, dichtbelaubte Äste.
Ich mache dich darauf aufmerksam, aber du weisst es schon. Du schaust zu mir zurück, und in dem Moment gerate ich in einen Tannenwipfel, der allein dasteht. Ich habe keine Möglichkeit mehr von dieser Spitze wegzukommen. Ich klammere mich an den Baum und sehe weit unten, dass er auf einem Felskegel steht. Du schaust zu mir zurück und weisst, dass du mir nicht helfen kannst. Für dich ist der Weg frei von Blätterdach zu Blätterdach.
Für mich aber gibt es nur einen Weg: Ich lasse mich fallen – von weit oben. – Das ist die Erlösung.

Die Frau der Alzheimer-Gesellschaft bestätigt mir, dass demente Menschen für ihre Angehörigen sorgen, wenn sie spüren, dass der Abschied naht. Sie stossen die Nächsten aus der Verbindung hinaus, damit sie ihr eigenes Leben zu leben beginnen.
Das war also deine Absicht. Du hast mir mit Bestimmtheit klar gemacht, dass du allein einen Weg gehst, auf dem ich dich nicht begleiten kann. Du gehst diesen Weg ernsthaft und klar.
In den letzten Monaten hast du immer wieder eindringlich darauf bestanden, dass ich für mich selbst sorgen soll: „Mach das, was dir wichtig ist! Mach das, was du willst! Lebe dein Leben!“ – „Ja, ich versuche es“, habe ich darauf jeweils geantwortet. Aber anscheinend hast du gespürt, dass ich noch zuwenig eigenständig bin. Nun hast du die Präsenz und Wachheit und Klarheit aufgebracht, die nötig war, diesen schmerzhaften Schritt anzustossen. Mit deinem Rückzug lässt du mir keinen anderen Ausweg mehr, als mich allein auf den Weg zu machen.

„Darf ich deine Hand halten?“ frage ich dich heute vorsichtig. Du nickst. Ich sage: „Ich weiss, dass wir Abschied nehmen.“ – „Ich bin allein“, sagst du. – „Ja, du bist allein, und ich bin auch allein, aber manchmal sind wir noch zusammen.“ – „Wie meinst du das?“ – „Wenn ich zu dir komme, und wir so sitzen wie jetzt, dann sind wir zusammen. Aber mir ist klar, dass du allein deinen Weg gehst, und ich allein meinen Weg gehen muss.“ Da überlegst du lange und sagst dann irgendeinmal: „Es kann auch Tod kommen.“ – „Ja“, sage ich: „Das ist sogar sicher, dass der Tod kommt. Und dann werden wir auf dem Friedhof liegen.“ – „Ich traue mich nicht hinzusehen“, sagst du. – „Du hast Mut.“ – „Woher weisst du das?“ fragst du. „Ich weiss das von letztem Samstag und von heute. Du hast mir gezeigt, dass du deinen Weg gehen willst, und dass ich mein Leben leben muss, weil wir uns trennen werden. Das hat mir gezeigt, dass du stark bist und Mut hast. Und ich habe mir vorgenommen, alles, was passiert zu durchleben und dem entgegenzusehen, was kommt.
Manchmal aber gibt es Zeiten, in denen man nicht mehr mag, weil es zuviel ist.“ Du nickst. „Dann kann man das, was kommt, nur über sich ergehen lassen.“ Und du nickst wieder.
„Ich danke dir, dass du dafür sorgst, dass ich zu mir schaue“, sage ich.
(Im Nachhinein denke ich sogar, dass du mich davor bewahrt hast, mit dir in den Tod zu gehen. Diese Gefahr erkenne ich erst jetzt beim Durchlesen meiner letzten Träume.)

Es ist Sonntagmorgen, um 4.00 Uhr früh. Ich bin immer noch hellwach und in der Schwingung unseres Gesprächs: Einmal hast du gesagt: „Das ist alles ein grosser Mist!“ – „Ja, das ist alles ein grosser Mist“, habe ich geantwortet, und du hast mich mit grossen Augen angeschaut, als ob du nicht damit gerechnet hättest, dass ich dir recht gebe.
Du sagst: „Wir machen nichts Wichtiges, nichts Gutes.“ – „Für mich ist wichtig, dass ich dich liebe, und für mich ist wichtig, mit dir zu sprechen und dir zuzuhören.“

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Traum, der mich nicht wieder einschlafen lässt:
Es ist Tag, und ich wohne in einem Haus, das am Meer steht. Es gibt keinen Sturm, aber das Meer hat hohe Wellen. Die Wellen fressen das Ufer weg, auf dem das Haus steht. Stück für Stück bricht es mit dem Ufer weg und wird vom Meer davongetragen. Dann wird es dunkel, und vom Haus ist nur ein jämmerlicher Rest geblieben. Ich meine noch immer darin wohnen zu können, obwohl mir klar ist, dass ich es aufgeben muss. Aber ich weiss nicht, wohin ich sonst gehen soll.

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Du sagst: „Ich darf es ja nicht sagen, aber es ist fürchterlich.“ Und ich antworte: „Das darfst du sehr wohl sagen, denn es ist fürchterlich. Und das, was ist, darf man sagen.“ Und endlich finde ich den Mut, dir den Grund für unsere Tragödie zu nennen, denn du murmelst: „Es steckt etwas dahinter!“ – „Ja“, sage ich. „Es steckt eine Alzheimer-Demenz dahinter.“ Und deine sonst verkrampften Finger, die kaum mehr die Handflächen freigeben, lösen sich plötzlich, und du legst deine Hand in meine. Und später fragst du, weil du es anscheinend noch einmal hören musst: „Was habe ich?“ – „Du hast Alzheimer-Demenz.“ Und da kommt deine für dich typische Reaktion, mit der du früher den Schmerz abgetan hast: „Nein, ich habe nichts!“ Und ich antworte: „Du weisst, dass Nichts Alles ist und Alles Nichts ist.“ – „Aber sie wissen das auch“, sagst du.

164

Wir sitzen auf dem Sofa, und ich sage: „Du bist mein Mann. Du warst immer mein Mann, und es tut mir leid, wenn ich es dir manchmal nicht zeigen konnte.“ Dann löse ich mich von dir und sehe, dass du schläfst.

165

Ich singe dir vor, du singst mir vor.
Ich wiederhole das Wenige, das ich von deinen Worten verstehe und doch nicht verstehe.

166

SOMMER
Ich wache auf mit dem Satz: „Du weisst, ich tue nichts, was ich sage.“ Dieser Satz aus dem Traum wiederholt sich immer wieder: „Du weisst, ich tue nichts, was ich sage; ich tue nichts, was ich sage.“

167

Ein Mann erzählt in einem Radio-Interview, dass er jeden Tag sechs bis acht Stunden bei seiner dementen Frau im Pflegeheim sei und für sie schaue und sie in die Arme nehme, und dass er nicht anders könne.
Ist das nun ‚Ehe‘? Ist das nun Nähe? Ich ginge daran zugrunde, wenn ich es so machte wie er.
Aber wann beginnt das Versagen, und wo ist die Grenze der Schuld?

168

Heute sagst du: „Ich bin krank.“ Und ich antworte: „Ich weiss.“
„Ich mache nichts mehr“, sagst du. „Du musst auch nichts mehr machen, denn alles ist schon gemacht“, sage ich. Und du freust dich.
Einmal sagst du: „Schäm dich!“ Und ich frage: „Warum muss ich mich schämen?“ „Nein!“ sagst du. „Ich schäme mich nicht“, sage ich. „Nein!“ sagst du.

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Jetzt kannst du unsere Lieder nur noch in Andeutungen mit mir zusammen singen. Die Melodien sind weg. Die meisten Worte sind weg. Einmal sagst du ein Wort, das so klingt wie „strahlen“. Ich sage: „Ja, ich strahle, wenn ich bei dir bin.“ Und du siehst glücklich aus.
Und einmal verstehe ich etwas, das klingt, wie „Geburtstag“. „Bald hast du Geburtstag, es geht nicht mehr lange. Am 27. Juli ist dein Geburtstag. Und dann komme ich zu dir, das ist klar. Und unser Freund und E. kommen eine Woche später mit dem Auto, weil unser Freund in den Ferien ist, wenn du Geburtstag hast; aber sie kommen.“ – „Schön“, sagst du.

Drei Tage nach deinem 89. Geburtstag, vier Tage bevor E. und der Freund kommen, lese ich Dir nochmals das Gratulationsschreiben des Gemeindevorstehers vor und auch eine Geburtstagskarte, die von einem Freund gekommen ist. „Ich habe mich für die guten Wünsche in deinem Namen bedankt und geschrieben, wie sehr du dich darüber gefreut hast“ –. „Schön“, sagst du. Das Danken war dir immer wichtig.
Ich schneide dir die Haare: „Damit du gut aussiehst, wenn der Besuch kommt.“ Du lachst und bist einverstanden, dass ich dir die Frisur richte, obwohl du es sehr ungern hast, wenn du gepflegt wirst.
Ich singe dir Märsche der Basler Fasnacht vor, die du früher selbst auf dem Piccolo gespielt hast, und du klatschst den Rhythmus dazu. Dann ‚sausen‘ – ‚sausen’ ist eines deiner Lieblingsworte – dann sausen wir mit dem Rollstuhl durch den Garten, sitzen im Schatten der Bäume und halten uns die Hände. Ich frage: „Was denkst du?“ und verstehe, dass du dir Sorgen machst, weil sich der Besuch über deinen Zustand erschrecken könnte. „Sie wissen. Sie wissen alles und sie verstehen es. Und ich bin da und helfe dir“, sage ich. Und dann meine ich zu verstehen, dass du doch nichts falsch gemacht hast, und nicht schuld daran bist, dass alles so gekommen ist. Du fragst dich, warum es dich getroffen hat. „Du bist ein guter Mensch, und du kannst nichts dafür. So etwas passiert einfach.“ Da schaust du mich mit offenen Augen an, und ich sage: „Du bist du, und das ist in Ordnung!“
Das Wunder unserer Gespräche ist, dass ich dich verstehe, obwohl ich dich nicht mehr verstehen kann. Und dieses Wunder ist mir eine grosse Ehre.

Und dann sagen der Freund und E. ab. Sie kommen nicht. „Ich will gar nichts!“ sagst du, als du die Nachricht vernimmst und rollst auf dem Rollstuhl davon. Es scheint, als habest du mit einer Enttäuschung gerechnet – und auch ich; denn seit langer Zeit nehmen wir Schicksalsschläge hin, einen nach dem andern, und rechnen nicht mehr mit der Leichtigkeit.

170

Doch in mich fällt ein unverhofftes Glück: Der Himmel beschert mir dieses Leben, und meine Seele kann wahrnehmen, was geschieht. Etwas sickert in mich ein, sickert stetig in mich ein, denn ich bin nun erwacht, dies mit mir geschehen zu lassen.

171

HERBST
Traum:
Wir stehen im Treppenhaus einer Hochschule und suchen im obersten Stock das Büro, das Auskunft über die Abfahrtszeiten geben kann. Doch dort, wo das Büro wäre, strömen uns Studierende entgegen, die aus einer Vorlesung kommen, und der Dozent kann uns auch nicht weiterhelfen. So steigen wir die Treppe wieder hinunter. Du gibst mir die Hand, und ich halte mich am Geländer fest. Es ist eine breite Treppe, auf der viele junge Leute hinauf- und hinuntersteigen.
Vielleicht wäre es besser, wenn du dich am Treppengeländer hieltest und mir die linke Hand gäbest. Wir probieren das aus. Aber deine Schritte werden immer unsicherer. Also tauschen wir unsere Plätze wieder.
Dann gehen wir in die Stadt, zum Marktplatz. Eine deiner Pflegerinnen erzählt, in dir sei ein Wandel geschehen: Du hättest dich jetzt mit deiner Krankheit abgefunden. Zufrieden gehst du neben mir, und das erinnert mich an früher, als wir nebeneinander gingen; und gleichzeitig erschrecke ich darüber, dass ich dich an der Hand führen muss.
In einem Hauseingang sehen wir drei Katzen, deren Fell seidig schimmert. Du bist fasziniert und schaust und schaust. Und als ich mich umdrehe, um weiterzugehen – wohin ist nicht klar –, bist du selbst eine Katze geworden mit grauschimmerndem Fell und verschwindest um die Ecke. Ich will dir nachlaufen, um dich einzufangen, aber da bist du schon weg.

172

Es fällt mir erst jetzt auf: Du trägst die ‚Uhr‘ nicht mehr, die ein Signal senden würde, falls du ausserhalb des Heims gerietest.

173

Traum:
Ich wandre von Norden nach Süden quer zu den Bergketten, und mit jeder erreichten Höhe wird die Landschaft offener und weiter. Und als ich die letzte erreiche und ganz oben ankomme, sehe ich unten eine Sennhütte und einen Mann dort stehen.

174

Du strahlst, als ich komme. Du bist ganz gegenwärtig und sprichst sehr deutlich.
„Schön“, sagst du. „Du bist da.“
Du schmiegst dich an mich. Ich singe ein Lied, und du sagst: „Ich liebe dich, – ich liebe dich.“
Und als wir später im Garten an der Sonne sitzen, sagst du: „Ich reue gar nichts. Alles ist gut.“ Und später: „Ich bin ein Kind.“ – „Ich bin auch ein Kind“, antworte ich. Und du freust dich.
Dann ist es Zeit zu gehen. Du senkst den Blick: „Du musst für dich schauen!“
„Ja, ich schaue für mich. Aber ich schaue auch, dass es dir gut geht. Und ich bin sehr froh, dass dieser Ort hier ein guter Ort ist. Ich lasse dich nicht allein.“
„Ich bin jetzt ich“, sagst du.
„Wie wundervoll! Darum geht es: Du bist jetzt du – und ich lerne ich zu sein.“

Ich lebe zurückgezogen in meiner Welt, wie du in deiner lebst. Bei jedem Versuch, in die äussere Welt zu gehen, verliere ich mein Gleichgewicht, als ob ich aus mir selbst herausfiele.

175

Ich verliere dich und ich verliere die, von der ich meinte, dass ich es sei.
Meine Grenzen rücken näher, begrenzen schonungslos das, was von mir übrig ist: Unvermögen und Eingeeinsamkeit von Beginn an, und der immerwährende Kampf dagegen: der Kampf gegen meine Wirklichkeit.
Ich lebe in einer Zwischenwelt, und die Tage verschwinden, die Abende lösen sich auf in seichten Geschichten aus Mediatheken.
Einmal lese ich in meinen Notizen „Wir leben noch, sagst du“ und endlich sickern die Tränen in die Schichten meiner Erstarrung.

176

„Du fehlst mir“, sage ich, und du fängst an zu schnaufen, als ob du Angst bekämest. „Du fehlst mir, wenn ich nicht bei dir bin“, sage ich, und deine Antwort ist: „Ich bleibe hier!“ – „Ja, du bleibst hier; das ist ein guter Ort. Du musst nicht befürchten, dass sich für dich etwas ändert, nur weil du mir fehlst.“
„Hier ist es lustig“, sagst du einmal. Wahrscheinlich als Antwort auf meine Stimmung, denn heute ist die nicht lustig.
Und dann rückst du von mir ab, und als ich dich an mich ziehen will, schaust du mich von der Seite her mit schreckgeweiteten Augen an.

177

WINTER
„Bist du allein?“ fragst du mich. „Ja, ich bin allein. Aber ich bin nicht allein, wenn ich bei dir bin.“
„Ich sitze jetzt da, wo ich geschlafen habe“, sagst du. Und das ist wahr: Man hat dir den kleinen Ruheraum eingerichtet, weil das grosse Gartenzimmer, in dem du bisher deine Schlafecke hattest, zuwenig Intimsphäre bot. Im Ruheraum sind nun dein Bett, die Trommel, der Plüsch-Löwe und ein kleiner Tisch, auf dem die Laterne aus Griechenland steht. Und das Sofa, auf dem wir gerade sitzen, steht nun an der Wand, an der vorher dein Bett stand.
„Ich schlafe nicht mehr hier“, sagst du.

„Du bist so lieb“, sagst du. „Und du bist auch lieb“, ist meine Erwiderung. „Nein, ich bin nicht mehr lieb!“ sagst du.

178

Traum:
Ich stehe auf einer Brache am Rand einer Siedlung, deren Hochhäuser rot bemalt sind. Der Wald zu meiner Rechten ist mit einem grosses Eisentor verschlossen, dessen Gitter noch mit Maschendraht überzogen ist. Leute kommen mir aus dem Wald entgegen. Sie schreiten durch das weit geöffnete Tor an mir vorbei, und gerade als ich auch durch das Tor will, ist es wieder geschlossen. Doch da hält es mir jemand weit auf, und ich trete ein.
Im Wald sitze ich auf einem hohen glänzenden Stangengestell, auf das ich geklettert sein muss. Das Gestell ist in sich wacklig und bewegt sich noch im Wind. Eine Frau versichert mir aber, dass es nicht umkippen kann. Du umfasst mich von hinten mit den Armen und ziehst mich ganz ans Ende des Gestells. Trotzdem fühle ich mich nicht sicher, denn das Gestell wackelt immer noch.
Die Frau sagt, ich dürfe mir etwas wünschen, weil ich Geburtstag hätte. „Ich möchte das Unkraut zwischen den Stangen weghaben“, sage ich. „Tatsächlich“, sagt die Frau: „Da ist Unkraut!“ Das Gestell ist acht oder zehn Meter hoch und das Unkraut ist bis zu den Stangen emporgewachsen. Die Frau kann mir nicht versprechen, dass sich mein Wunsch erfüllt, denn Sie sitzt selbst auch auf den Stangen. Und was geschähe, wenn das Unkraut weg wäre, und ich den Boden sähe?
Das Gestell schwankt beängstigend. Ich sehe, dass neben uns noch andere Stangen im Waldboden verankert sind, und halte mich an einer dieser Stangen fest. Ich will dich davon überzeugen, dass es besser wäre, wieder hinunterzuklettern, aber du bist unterdessen eingeschlafen.

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„Ich spiele nur noch mit mir. – Ich mache mich.“ Wie eine Botschaft sagst du das. Ich sage: „Das sind wichtige Lebensziele, und die hast du nun erreicht.“
Erst am nächsten Tag, dem Tag des Adventsessens mit den Angehörigen, realisiere ich, was du mir eigentlich gesagt hast: Du spielst nicht mehr mit mir, du spielst jetzt allein.
Die Pflegerin versteht, anders als ich, sofort, was das bedeutet: „Das ist auch eine Erleichterung für Sie“, sagt sie.
Du strahlst sie an, während sie dich mit dem Advents-Braten füttert.

„Du spielst jetzt mit dir, und ich lerne mit mir zu spielen“, sage ich. „Wir machen eine schwere Zeit durch, aber eine wichtige Zeit. Und wir sind nicht allein: Der Himmel ist mit uns.“

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„Bin ich dumm?“ fragst du. Und ich antworte: „Du hast Alzheimer-Demenz. Dein Kopf verändert sich, aber hier, wo dein Herz ist, weisst du alles.“ Aber das ist dir heute kein Trost.
„Ich kann meiner Frau nichts mehr geben. Ich bin nichts mehr“, sagst du. Und ich fasse dich an den Armen und versichere dir inständig: „Du gibst mir alles!“ Aber auch das ist kein Trost.
Und aus der Rigorosität der Verzweiflung entziehst du dich und lehnst alles ab, was Nähe bringen könnte.
„Mein Kopf“, sagst du. „Dein Kopf hat Alzheimer-Demenz“, sage ich.

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Eine Bekannte lieh einer Hinterbliebenen ein Buch über Trauer. „Eigentlich bist du ja auch in Trauer“, sagt sie zu mir, als ob sie dies erst jetzt erkenne. „Ich bin seit Jahren in Trauer“, sage ich.

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Traum:
Ich gehe in der minderen Stadt in ein Restaurant, das sehr angesagt ist. Ich setze mich zu einem Paar an den Tisch, das gerade aufbrechen will. Ich befürchte, dass ich als Fremde ignoriert würde, doch da steht bereits ein Bier vor mir. Die Wirtin kündigt an, dass ab 14.00 Uhr die Sirenen eine Stunde lang heulen würden, und dass die Synagoge im Quartier davon betroffen sein werde. Am Nebentisch sitzt der Koch. Er ist ein zurückhaltender, ruhiger Mensch. Er hat die Küche geschlossen, aber als Durchreisende kommen, die noch nach Essen fragen, ist er bereit, ihnen etwas zu wärmen. „Stammgäste, die häufig vorbeikommen“, sagt die Wirtin.
Am nächsten Tag gehe ich mit dir zusammen zum Tisch, an dem der Koch sitzt. „Wer ist das?“ fragen Koch und Bedienung. „Das ist mein Mann“, sage ich. Das erstaunt sie sehr. Sie freuen sich über deinen weissen Lockenkopf. Du gehst zu anderen Gästen an einem Tisch im Hintergrund. Du kennst einen der Männer dort. Ihr umarmt euch, und der Mann legt seinen Kopf zutraulich an deine Schulter.
Ich bin stolz, dass du mein Mann bist und so gut aufgenommen wirst von andern; so werde auch ich gut aufgenommen.

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